Die Cyclassics in Hamburg starten früh! Um 7:00 geht der Startblock A auf die Strecke. Man steht bereits eine halbe Stunde früher im Block und genießt die Stimmung.
Alle sind freundlich aber auch angespannt. Ich sehe Niels und seinen Bruder Johannes hinten im Block stehen. Wie nett! Ich gehe zu den beiden und wir unterhalten uns ein wenig, dazu ein Foto mit schon mal zwei WattFabrikanten. Nach dem Start merke ich, dass es unklug war, so weit nach hinten in den Block zu gehen. Niels und Johannes sehe ich schon nach wenigen Metern nicht mehr. Um mich herum sind viele Fahrer, die eher moderat beginnen. Ich muss nach vorne, denke ich und beginne bereits nach wenigen Sekunden eine Aufholjagd, denn das Mitfahren im ersten Zug war ein wesentlicher Bestandteil meiner Rennplanung. Es dauert 8 Kilometer, bis ich den ersten Zug sehen kann. Es fehlen noch 200m, die ich zufahren muss. Gemeinsam mit zwei anderen Fahrern versuche ich die Lücke zu schließen. Der Puls geht durch die Decke, die Oberschenkel schmerzen. Noch 100m, wir wechseln uns zu dritt ab mit der Führung. Der Abstand wird kleiner. Als wir knapp 30m dran sind, ziehen meine Mitstreiter nicht mehr mit. Was ist da los? Die sahen viel fitter aus als ich! Was tun? Am Vorabend saß ich mit Oliver Vakilzadeh im Restaurant und wir sprachen über die mentale Stärke, die man braucht, um in Rennen Erfolg zu haben, darüber, dass das Professor-Hirn in uns das triebhafte Affenhirn in uns bändigen muss. Weiter, weiter! Gib alles, danach darfst Du Dich ausruhen im Schutz des Zuges. Ich fahre also die letzten 30m alleine zu und erreiche tatsächlich noch den Zug, der nun auf der breiten Bundesstraße gerade schneller wird. Ausruhen bei Tempo 47km/h, das klingt verrückt, aber es funktioniert. Im ersten Zug sind ca.120 Fahrerinnen und Fahrer, vielleicht ein paar mehr oder weniger. Es sind viele. Aber viele sind auch unerfahren und unruhig. Da werden immer wieder Positionswechsel vorgenommen von Leuten, die Angst haben, nicht optimal mit Windschatten versorgt zu werden. Mir wird das alles zu riskant und ich lasse mich in diesem Zug ganz nach hinten fallen. Den Windschatten nehme ich mit, aber ich fühle mich sicherer so ganz hinten. Ein kurzer Blick nach hinten und ich sehe niemanden! Unser Zug ist so schnell unterwegs, dass wir eine Riesenlücke nach hinten gerissen haben. Der Einsatz eben hat sich gelohnt. Die folgenden 40km verlaufen ruhig. Immer, wenn die Strecke eine scharfe Kurve macht oder wenn wegen eines Kreisels gebremst werden muss, fahren danach alle wie die Irren los. Das sind die kurzen Sprints, mit denen die Windschattenlutscher wie ich abgeschüttelt werden sollen. Darauf war ich vorbereitet. Also immer im richtigen Moment zehn bis zwanzig Sekunden Vollgas geben, um nicht der Zopf zu sein, der abgeschnitten wird. Kurz vor Blankenese sehe ich das WattFabriktrikot von Niels. Er hat sich immer schön am rechten Rand des Feldes aufgehalten und ist vermutlich mit viel weniger Kraftaufwand als ich in diesen ersten Zug gelangt. Die Strecke bietet dann nach 48km ein paar Herausforderungen. Drei Anstiege, von denen einer sich über 2,5km zieht, stehen auf dem Programm. Hier gilt es, noch einmal auf die Zähne zu beißen. Weil ich aber ganz hinten in diese Anstiege gestartet bin, war es klar, dass ich an den ganz vorderen Fahrern nicht dranbleiben kann. Aber egal. Ich habe nun wieder alles in die Waagschale gelegt und am Anstieg alles rausgehauen, was ich hatte. Am Ende habe ich wie in besten Zwiftzeiten vor Anstrengung geschrien, aber ich bin oben angekommen und war nicht allein. Gar nicht allein war ich sogar! Es waren gut 30 Fahrer um mich herum! Wie großartig! Ich habe es in den Verfolgerzug geschafft, der auch nach den Anstiegen in sehr gutem Tempo weitergefahren ist. Es ging von den Hügeln von Blankenese dann wieder bergab in Richtung Innenstadt. Vier Kilometer vor dem Ziel spricht mich ein Fahrer an. „Na da hast Du Dich ja richtig hochgeschrien vorhin!“, meinte er zu mir. Er habe sich danach immer an meinem Trikot orientiert, weil ich in etwa seine Körpermaße habe und er sich wohl gesagt hat, wenn der Kerl das schafft, dann schaffe ich das auch. „Gleich hast Du noch ein Sprint im Köcher! Du bist eine Sprintsau, das sehe ich!“ schiebt er mir noch wohlwollend nach. Sprintsau? Ich? Ich wollte eigentlich nur meinen guten Temposchnitt ins Ziel bringen und heile ankommen. Aber ein Zielsprint? Warum eigentlich nicht? Ich bin also auf den letzten zwei Kilometern in die linke Spur gegangen und habe versucht, eine gute Position zu finden, einen Kompromiss aus Windschatten und freier Bahn. Es hat gut geklappt. Tatsächlich habe ich im Sprint noch einmal die letzten Reserven rausgehauen und gut zehn Fahrer überholt. Mein Zielfoto wird nicht so entspannt sein, wie die in den letzten Jahren mit gespielter Siegerpose. Diesmal war ich mitten im Stress, als es über die Ziellinie ging. Aber toll hat es sich angefühlt! Weltklasse! Ich habe bei weitem nicht die Rennerfahrung eines Ulle Weide, Tom Hagemann oder Oliver Vakilzadeh. Und ich kenne auch auf Zwift meine Grenzen. Aber das heute, das war viel mehr als ich erwarten konnte und auch mehr als ich mir selbst zugetraut habe. Vielleicht hat mich der Dialog mit Oliver gepusht. Vielleicht ist Radrennfahren auch zu einem viel größeren Anteil eine Sache von Renntaktik und Mentalität als ich dachte. Es war großartig. Das Rennergebnis konnte ich im Nachgang kaum fassen: Durchschnittstempo von 41,6km/h, Platz 33 von 3340 insgesamt! Sorry Leute, aber das fühlt sich an wie ein Rennsieg! Platz 9 in meiner Altersklasse von 543. Geil! Zumal ich im Zielsprint vier Altersgenossen überholt habe und mich dadurch erst in die Top Ten gefahren habe.
Das Rennwochenende war etwas ganz Besonderes! Hamburg ist der Hammer! Im Vorfeld und danach verschiedene WattFabrikanten zu treffen und sich auszutauschen hat das Ganze noch abgerundet. Ob sich der ganze Aufwand und die Kosten lohnen? Auf jeden Fall! Von solch einem Erlebnis werde ich sehr lange zehren!
Text: Carsten Wiepking / Fotos: www.sportograf.com